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Objektive Realität

 Descartes verwendet den Begriff der Substanz im Discours de la Méthode noch nicht terminologisch.gif Das erste Mal kommt er in den Meditationen relativ unvermittelt vor, im Zuge des Gottesbeweises der dritten Meditation und zusammen mit anderen traditionellen Termini wie realitas obiectiva, modus und accidens:
Ohne Zweifel nämlich sind die Ideen, die mir Substanzen darstellen, in etwas größer oder, wie man sagt, sie enthalten mehr realitas obiectiva in sich, als diejenigen, die bloß für Weisen (modi) oder Zustände (accidentia) stehen.gif
Wie ist es zu verstehen, dass bestimmte Ideen mehr objektive Realität (realitas obiectiva) enthalten? Zunächst ist wichtig, bei dem Wort realitas obiectiva nicht an das zu denken, was wir heute unter ,objektiver Realität` verstehen.gif Das klassische Latein versteht unter realitas vornehmlich den Bezug auf einen Gegenstand und gerade nicht die Unabhängigkeit eines Gegenstandes von solcher Bezugnahme. Das lateinische objicere bedeutet ursprünglich ,vorwerfen, tadeln` oder ,entgegenstellen`und in dem entsprechenden Sinn von ,vorgestellt` wird auch der Begriff obiectum bis ins späte Mittelalter gebraucht. Eine realitas obiectiva ist also, dem Wortsinn nach, erst einmal ein ,vorgestellter Gegenstandsbezug`.gifEs ist aber ebenso irreführend, den cartesischen Begriff der objektiven Realität mit unserem der subjektiven Vorstellung gleichzusetzen.gif Die realitas obiectiva einer Idee ist nicht vollständig in dem Subjekt, das diese Idee hat, sondern sie ist das ihr Vorgestellte.gif Was vollständig im Subjekt ist, nennt Descartes die formale Realität der Idee. Der Begriff der objektiven Realität wird eineentscheidende Rolle bei der Diskussion des cartesischen Substanzbegriffesspielen. Ich werde dazu der Bemerkung folgen, Substanzen hätten mehrObjektivität als modi. Nach diesen Vorbemerkungen gilt es aber zunächst, Klarheit über den cartesischen Ideebegriff zu gewinnen. Was eine Idee ist, definiert Descartes im Anhang zu den zweiten Erwiderungen.gif
Unter der Bezeichnung Idee verstehe ich jene Form einer jeden Denktätigkeit, durch deren unmittelbare Erfassung ich mir eben dieser Denktätigkeit bewusst bin.gif
Wenn hier von Erfassung (perceptio) einer Idee durch das ego die Rede ist, sollte dies im Sinne der Annahme einer gewissen Denkform durch das Denken verstanden werden. Descartes gebraucht percipere in der Regel nicht, wenn es um das Wahrnehmen geht.gif Auch Louis de la Forge trennt, im Anschluss an Descartes, perception von aperception, so dass unter perception die Formung des Geistes zu verstehen ist, durch die er eine Idee hat. Die perception ist das, wodurch wir der Gestalt unserer Gedanken ,sicher sind`.gif In einem Brief an Mersenne vom 28. Januar 1641 schreibt Descartes, das Erfassen einer Idee sei nicht anderes als die Idee selbst.gif Wenn das Erfassen einer Idee in der Formung des Geistes besteht, ist dies erklärbar. Formung kann zugleich der Akt wie auch das Resultat einer Formgebung genannt werden. An Regius schreibt Descartes im Juni 1642, das Wesen einer Idee bestehe darin, dass sie ein gewisser modus im Geiste sei.gif Ein modus ist wiederum eine gewisse Art des Geistes, zu sein. Auch eine Form ist, allgemein und gemäß dem scholastischen Verständnis verstanden, eine beliebige Art und Weise eines Dinges, zu sein. Descartes versteht unter einer Idee also eine Formung oder einen modus des Geistes und dass der Geist diese Form annimmt, darin besteht die Formung des Geistes. In den dritten Erwiderungen schreibt Descartes, so verstanden, Ideen seien Formen einer Formung (perceptionis).gif Eine Idee ist demanch die Art und Weise, in der der Geist sich eine Form gibt.gifIm Vorwort an den Leser der Meditationen unterscheidet Descartes zwei Weisen, Ideen zu betrachten:
Man kann darunter nämlich materialiter eine Operation des Verstandes verstehen, in welchem Sinne man sie [die Idee Gottes] nicht vollkommener [als andere Ideen] nennen kann. [Man kann darunter aber] auch obiective die Sache verstehen, die durch diese Operation dargestellt wird, und wenn diese Sache auch nicht außerhalb des Denken existieren mag, so kann sie ihrer inhaltlichen Bestimmung nach (suæ essentiæ) dennoch vollkommener genannt werden.gif
Einerseits kann an einer Idee also hervorgehoben werden, dass sie eine Form des Denkens ist, andererseits, dass sie etwas vorstellt. Descartes scheint weiter zu unterstellen, dass von der einfachen Betrachtung der Form einer Idee kein Aufschluss über ihren Gegenstand zu erwarten sei. Es sei prinzipiell etwas anderes, eine Idee ihrer Form als Denkform nach zu untersuchen, als ihrem Gegenstand nach. Eine weitere Unterscheidung zieht Descartes in den vierten Erwiderungen mit ähnlichen Worten:
Da diese Ideen gewisse Formen sind und nicht [selbst] aus irgendeiner Materie zusammengesetzt sind, werden sie, so oft sie hinsichtlich einer Sache, die sie darstellen, betrachtet werden, nicht materialiter, sondern formaliter aufgefasst, wenn sie aber betrachtet würden, nicht insofern sie dieses oder jenes darstellen, sondern allein insofern sie Operationen des Verstandes sind, kann man sagen, sie würden materialiter aufgefasst, aber dann hätten sie keinen Bezug zu irgendeiner Weise des Wahr- oder Falschseins ihres Gegenstandsbezugs.gif
Die Argumentation lautet hier: Ideen sind nicht materiell, also können auch die Ideen, die etwas Ausgedehntes darstellen, nicht selbst ausgedehnt sein. Ihrer Form nach (formaliter spectata) sind Ideen nicht Teil der ausgedehnten Welt. Die Ausdehnung ist nicht die Form einer Idee, sondern ihre Materie, also dasjenige, von der die Idee handelt. Offenbar ist die Terminologie alles andere als eindeutig. Hier nennt Descartes formaliter scheinbar diejenige Auffassung, die er oben als obiective von der formalen abgesetzt hatte. Zwischen der Definition aus dem Anhang zu den zweiten Erwiderungen und den beiden soeben zitierten Stellen besteht ebenfalls eine gewisse Spannung. Einerseits definiert Descartes Ideen selbst als Formen des Denkens und damit als Formen des denkenden Dinges (res cogitans). Andererseits spricht er von der Form einer Idee im Gegensatz zu ihrem Inhalt und nennt auch Letzteren ,Idee`. Es ist allerdings zu beachten, dass Descartes im Anhang zu den zweiten Erwiderungen eine kurze Darstellung beabsichtigt,gif und er dementsprechend stillschweigend die Entscheidung fällt, nur in dem Sinne von Ideen zu sprechen, den er im Vorwort an den Leser als formaliter charakterisiert hat. In den weiteren Definitionen der Begriffe realitas obiectiva, formaliter und eminenter, die er im Anhang zu den zweiten Erwiderungen gibt, spricht er stets von Objekten von Ideen, nicht von Ideen obiective spectatæ. In einem Brief vom Juli 1641 schreibt Descartes aber kurz:
Ich nenne generell alles das eine Idee, was in unserem Geist ist, wenn wir ein Ding erfassen, der Art nach, wie wir es erfassen.gif
Allgemein ist offenbar jede Tätigkeit des Geistes Idee zu nennen, bei der es um ein Ding geht.gif Andreas Kemmerling hat die Vermutung geäußert, Descartes unterscheide insgesamt drei Aspekte an Ideen: Ideen materialiter ihrer Form nach, obiective ihrem vorgestellten Gegenstandsbezug nach und formaliter hinsichtlich der Form des existierenden Gegenstandes, den sie bezeichnen.gif Indem Descartes an der Existenz der Außenwelt zweifelt, bleiben von diesen Aspekten diejenigen übrig, die nicht unmittelbar mit der Außenwelt zusammenhängen: die Form einer Idee selbst und ihr vorgestellter Gegenstandsbezug. Sofern Ideen als Darstellung von etwas betrachtet werden, will ich im Folgenden von ihrer objektiven Realität sprechen. Zwischen der formalen und der materialen Realität einer Idee in Kemmerlings Sinne mache ich für meine Zwecke keinen Unterschied - beide mögen einer Idee zukommen, sofern sie nicht als Vorstellung von etwas betrachtet wird. Als Form, zu Denken (cogitationis forma), möchte ich festhalten, unterscheiden sich Ideen nicht voneinander. In der dritten Meditation, an einer kritischen Stelle seines Gottesbeweises, schreibt Descartes:
Indem diese Ideen nämlich nichts als gewisse Weisen des Denkens sind, erkenne ich keine Ungleichheit zwischen ihnen und alle scheinen in gleicher Weise von mir auszugehen.gif
Die Unterscheidbarkeit von Ideen, fährt er fort, liegt in ihrer realitas obiectiva.
Sofern jedoch eine [Idee] eine Sache vorstellt, eine andere eine andere [Sache], sind sie offenbar voneinander sehr verschieden.gif
Ideen sind also nur bezüglich ihres vorgestellten Gegenstandsbezuges voneinander unterscheidbar. dass der einzige Unterschied, den Ideen untereinander haben, in dem Gegenstand liegt, den sie vorstellen, unterscheidet Ideen von Worten und eventuell Begriffen, die ja auch der Form nach voneinander verschieden sind.Ideen unterscheiden sich also zunächst dadurch, dass sie einen je verschiedenen Gegenstandsbezug vorstellen. Darüber hinaus können Ideen unabhängig voneinander sein. Diese Unabhängigkeit kann nur in ihrer Verschiedenheit, also in ihrer objektiven Realität begründet sein. Eine Idee kann dann als unabhängig von einer anderen gelten, wenn sie etwas vorstellt, das ohne Bezug auf diese andere Idee vorstellbar ist. Das bedeutet insbesondere, dass der Gehalt zweier voneinander unabhängiger Ideen gesondert definiert werden kann. Eine Idee A ist dann von einer Idee B unabhängig, wenn sie ihrem Inhalt nach definierbar ist ohne Bezugnahme auf B.
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