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Sünde und Irrtum

In der jüdischen Tradition kann man die bemerkenswerte Auffassung vertreten finden, Engel seien neidisch auf Menschen. Sie sind es, weil Gott sie bevorzugt, und Gott bevorzugt die Menschen eben deshalb, weil sie sich ihre Rechtschaffenheit mühsam erwerben mussten, wenn sie ein gutes Leben führen. Engel dagegen müssen nichts für ihr moralisches Empfinden tun und nicht gegen Leidenschaften ankämpfen. Ihre Güte ist zwar vollendet, aber weniger wert.gif Für die christliche Tradition stellt es ein philosophisches Problem dar, wie Engel überhaupt sündigen können. Sie können es, denn der Teufel ist ein gefallener Engel. Thomas von Aquin widmet eine seiner quæstiones der Frage, wie ein Engel, der volle Einsicht in das geistliche Gesetz hat, dennoch sündigen konnte und kommt zu dem Schluss, die Sünde eines Engels müsse vollständig bewusst geschehen, aus reiner Lust an dem offenbar Bösen.gifEine Sünde, die ein reiner Geist begeht, ist daher nicht entschuldbar. Was die Sünden des Menschen zu entschuldbaren macht, ist für die Christen eine weitere Sünde, nämlich die Erbsünde. Aus der Sünde Adams resultiert erst die Fleischlichkeit des Menschen. Die Lehre von der Erbsünde ist die erzählerische Form, in der das Christentum die Gespaltenheit des Menschen in Leib und Geist thematisiert. Pascal schreibt in seinen Pensées:
Denn schließlich, wenn der Mensch niemals [der Sünde] verfallen wäre, dann würde er sich mit Sicherheit in seiner Unschuld der Wahrhaftigkeit und Glücklichkeit erfreuen. Und wenn nie anders als verdorben gewesen wäre, hätte er keinerlei Begriff von der Wahrheit, noch von der Glückseligkeit. Aber, unglücklich wie wir sind, liegt in unserer Verfassung nicht nur überhaupt nichts an Größe, sondern wir haben eine Vorstellung vom Glück und können es nicht erreichen. Wir fühlen ein Abbild der Wahrheit und besitzen nichts als das Trugbild. [Wir sind] unfähig zur Unwissenheit wie zum sicheren Wissen, so offenbar ist es, dass wir einst einen Grad an Vollkommenheit besaßen, obwohl wir nun unglücklicherweise fehlgegangen sind. [Zusatz:] Erkennen wir an, dass die Natur des Menschen eine zweifache ist.gif
Descartes verweist in einer Erläuterung der vierten Meditation ebenfalls auf die Verdorbenheit des Menschen durch die Erbsünde. Genauer schreibt er dort, der Wille sei durch den Affekt korrumpiert.gifEbenso wie Descartes spricht sich auch Pascal gegen eine Reduzierung des lebenden Menschen auf reine Geistigkeit oder Körperlichkeit aus.
Der Mensch ist weder Engel noch Tier und das Unglück will es, dass der [aus ihm] das Tier macht, der den Engel machen will.gif
Dieser Gedanke findet sich bereits bei Montaigne und es ist zu vermuten, dass Descartes ihn kannte.gifDie Möglichkeit von Sünde und Irrtum hängt auf vielfältige Weise mit der Unterscheidung zwischen Leib und Seele zusammen. Irrtum entsteht zunächst nur dort, wo der Geist nicht rein ist, und das heißt dort, wo der Mensch fleischlich ist. Der Leib des Menschen kann ihn mitunter aber auch entschulden. Für ein Niesen im Konzertsaal trägt der Niesende meist keine Schuld, es ist ihm passiert. Sogar ein Charakterfehler kann in begrenztem Maße entschuldigt werden, wenn es eine physiologische Geschichte dazu zu erzählen gibt. Es ist nicht der körperlich determinierte Aspekt des lebenden Menschen, dem Schuld zugeschrieben werden kann, sondern der durch den Körper zum Irrtum verleitete Geist.
Denn es sind nur die Handlungen, die allein von diesem freien Willen abhängen, für die wir mit Grund gelobt oder getadelt werden können, und dieser macht uns in gewisser Weise Gott ähnlich, indem er uns zu Herrn über uns selbst macht.gif
Die Grenze zwischen der Leiblichkeit und Geistigkeit des Menschen kann also anhand der Begriffe Schuld und Irrtum gezogen werden. Ist diese Grenze einmal gezogen, und sie kann ohne Voraussetzung des cartesischen Dualismus eingesehen werden, stellen sich die Begriffe vom reinen Geist und der reinen Körperlichkeit als Idealisierungen der am lebenden Menschen unterscheidbaren Aspekte heraus. Die reine Physik ist dann ein Wissen der idealisierten Körperlichkeit und die reine Metaphysik werde ich entsprechend als ein Wissen der idealisierten Verantwortungsfähigkeit des Menschen charakterisieren. Diese Idealisierungen können als solche aufgegeben werden, wenn auch nicht gleich dadurch der Mensch zu einer Einheit wird. Der Mensch kann weiterhin irren und schuldig werden und dies unterscheidet ihn von den Automaten, die die heutige Physik kennt und beschreiben kann. In der rein körperlichen Natur gäbe es ebenso wenig Irrtum wie für den reinen Geist. Descartes schreibt:
So befolgt auch eine aus Rädern und Gewichten gefertigte Uhr nicht weniger genau die Gesetze der Natur, wenn sie schlecht gearbeitet ist und die Stunde nicht richtig anzeigt, als wenn sie in allem den Anforderungen des Herstellers genügt.gif
Damit geht in der Idealisierung gerade das verloren, was den Unterschied zwischen der Leiblichkeit und Geistigkeit des Menschen ausmachte: die Schuldfähigkeit. Schon aus diesem Grund kann der Mensch nicht begriffen werden, indem man ihn bloß metaphysisch oder physikalisch thematisiert. Hiermit kehre ich zur Diskussion der cartesischen Philosophie zurück.
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