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Eine Idee, die sich ihrem Gegenstand nach
vollständig von anderen Ideen unterscheiden lässt, nennt
Descartes deutlich oder getrennt (
distincta). Er schreibt am
Ende der zweiten Meditation, die Idee einer denkenden Substanz sei in
jeder weiteren Idee vorausgesetzt und könne unabhängig von
jeder dieser Ideen gehabt werden. Das ist das unmittelbare Beweisziel
des Zweifelsversuchs der Meditationen: Wenn gedacht wird, denkt
offenbar ein Denkendes und dieses geht jedem Denken
voraus. Interessant ist hier die Formulierung, die Descartes
wählt:
Da ich mich nicht nur durch das Sehen und
Fühlen, sondern aus vielen Ursachen erkenne, um wieviel
getrennter (distinctius) muss ich mich zugegebenermaßen
selbst erkennen.
Was
durch viele verschiedene Weisen erkannt werden kann, kann umso
unabhängiger erkannt werden und das heißt: Es ist
unterschiedener, getrennter (
distinctius) erkennbar.

Descartes gibt hiermit nicht
nur an, wann etwas deutlich (
distinctum) ist, nämlich
wenn es sich von anderem unterscheiden lässt, sondern er gibt
auch an, wie Unterscheidbarkeit möglich wird. Sie wird gleichsam
durch einen Wechsel der Perspektiven möglich. Die denkende
Substanz ist deswegen deutlich erkennbar, weil sie zweifeln, bejahen,
verneinen etc. kann und sich dadurch in verschiedener Weise als ein
und dieselbe denkende zeigt. Ebenso sind die geometrischen
Eigenschaften der Gegenstände der Außenwelt deutlicher
erkennbar, da sie im Gegensatz zu anderen Eigenschaften wie
Schönheit, Geschmack oder Wärme betrachterunabhängig
sind. Ein Quadrat zeigt sich unterschiedlichen Betrachtern bei
wechselnder Beleuchtung gleichfalls als bestimmte geometrische
Figur.Zweitens ist ein Merkmal der Deutlichkeit einer Idee, dass
wenige andere Ideen in ihrer Definition vorausgesetzt sind. Descartes
beansprucht, gezeigt zu haben, dass sich Denken ohne Bezug auf
Ausdehnung definieren lässt und Ausdehnung ohne Bezug auf
Wärme, nicht aber umgekehrt.
Am deutlichsten sind, wie
bekannt, zwei Klassen von Eigenschaften zu erkennen: die der
Denktätigkeiten und die der Weisen, ausgedehnt zu sein. Wenn der
Begriff der objektiven Realität auch eine Vorgeschichte in der
Hochscholastik hat,

so scheint mir dies seine hier
relevante Bedeutung zu sein: Eine Idee hat umso mehr objektive
Realität, je besser sie sich von anderen Ideen unterscheiden
lässt, das heißt, je unabhängiger sich die Idee
definieren lässt. Deshalb hängt der Begriff der
Deutlichkeit einer Idee auf das engste mit dem Substanzbegriff
zusammen. Eine Substanz ist etwas, von dem wir eine klare und
deutliche Idee haben können und dies wiederum bedeutet, dass wir
Ideen von Substanzen relativ unabhängig von anderen Ideen haben
können. Eine Substanz ist also im Wesentlichen das Korrelat zu
einem klaren und deutlichen Begriff.

Die Begriffe der Deutlichkeit und der
Substanz hängen aber auch in nun leicht erkennbarer Weise mit
dem der objektiven Realität einer Idee zusammen. Denn diese ist
es ja, die überhaupt Unterscheidungen zwischen Ideen
ermöglicht. Ideen von Substanzen haben mehr
realitas
obiectiva als Ideen von
modi. Das heißt, sie sind
besser von anderen Ideen unterscheidbar und von mehr anderen Ideen
unabhängig.Wodurch aber lassen sich Ideen überhaupt
voneinander unterscheiden, mit anderen Worten: Woher kommt ihre
realitas obiectiva? Descartes hat diese Frage nicht explizit
gestellt,

aber eine Antwort
könnte in folgender Überlegung gefunden werden. Phoneme,
die lautlichen Bestandteile unserer Worte, lassen sich bereits ihrer
Form nach unterscheiden. Laute bestimmter Art klingen wie ein ,R` und
nicht wie ein ,S`, weil wir sie auf bestimmte Weise
erzeugen. Allerdings gibt es auch äußerst verschiedene
Weisen, ein ,R` zu erzeugen. Man kann sich im Deutschen
verständlich machen, indem man das ,R` in der Kehle oder mit der
Zunge erzeugt, ja sogar, indem man ein ,L` von sich gibt oder das ,R`
einfach prinzipiell auslässt. Es reicht aus, dass alle Worte, in
denen das ,R` vorkommt oder vorkommen sollte, dennoch nicht
missverständlich werden. Ob Missverständnisse entstehen
können, liegt aber nicht nur an der lautlichen Gestalt des
Phonems ,R` sondern vor allem an den Möglichkeiten der Sprache,
in der die Worte mit ,R` vorkommen. Es reicht, wenn alle Phoneme, die
in einer Sprache relevant sind,
voneinander unterscheidbar
sind.

Die arabische Sprache macht,
im Gegensatz zum Deutschen, einen Unterschied zwischen dem Zungen-
und dem Kehlen-,R`und sie unterscheidet sogar (wenigstens) drei
verschiedene ,S`-Laute. Im Arabischen ist es nicht möglich, ein
,R` gleichermaßen mit der Zunge oder in der Kehle zu erzeugen,
und zwar, weil sich dadurch je andere Worte ergeben. Es ist die
jeweilige Sprache, die die Laute unterscheidet. Tritt man mit einer
solchen Überlegung an Descartes heran, so wird eine kreative,
aber erhellende und nicht völlig freischwebende Interpretation
möglich.Es ist, so soll angenommen werden, im Falle der Ideen
ebenso das Gesamt der Ideen, das ihre
realitas obiectiva
ermöglicht. Eine Unterscheidung zwischen Phonemen benötigt
zwar trotz allem ein gewisses Substrat. ,R` und ,S` müssen rein
physikalisch unterscheidbar sein, bevor eine Sprache sie
unterscheiden kann. An diesem Punkt krankt die Analogie, denn
Descartes' Ideen sollen sich, für sich betrachtet, ja in nichts
unterscheiden. Dass sie sich unterscheiden, liegt nicht an etwas, das
sie selbst, für sich betrachtet, haben.Diese Dysanalogie kann
vielleicht durch das folgende Argument gemindert werden. Descartes
selbst hatte, nach Kemmerling, drei Ebenen der Redeweise von Ideen
unterschieden: Ideen als bloße Denktätigkeiten, als
Darstellungen von etwas im Geist und als Darstellungen wirklicher
Dinge. Vielleicht können Ideen nur deswegen etwas ,im Geist`
darstellen, weil sie auch etwas Wirkliches darstellen
können. Dann hat auch Descartes, bevor er anfing zu meditieren,
den Gebrauch seiner Ideen anhand ihrer Funktion gelernt, wirkliche
Dinge zu bezeichnen. Diese Funktion der Ideen, Dinge zu bezeichnen,
bleibt erhalten, wenn man im Nachhinein die außenweltliche
Realität wegdenkt, aber sie kommt dennoch nicht aus dem reinen
Denken selbst. Die Unterscheidbarkeit der Ideen kommt aus dem Umgang
mit der Welt, ist aber für ihren Fortbestand nicht auf
beständigen Umgang mit der Welt angewiesen. In gewisser Weise
kommen die Ideen dann auch aus dem Geist. Das meditierende
ego
kann sich einen Kamin vorstellen, obwohl vielleicht kein Kamin da
ist. Es kennt Kamin-Ideen. Wenn das möglich ist, spricht
Descartes von dem
eminenten Vorkommen einer Realität.

Obwohl das
ego selbst
kein Kamin ist, kann es dennoch alles, was zu der Vorstellung eines
Kamins gehört, ausgenommen dessen Existenz, aus sich
hervorbringen.Die Annahme, dass Ideen wesentlich durch ihren Bezug
zum Gesamt aller Ideen unterscheidbar werden, scheint mir eng mit der
folgenden Argumentation aus der dritten Meditation
zusammenzuhängen.
Und was die
Ideen betrifft, die andere Menschen, Tiere oder Engel darstellen, so
erkenne ich, dass sie leicht aus denen zusammengesetzt werden
können, die ich von mir selbst, den körperlichen Dingen und
Gott habe, auch wenn keine Menschen außer mir, keine Tiere oder
Engel in der Welt wären.
Der Hinweis auf die
Gesamtmenge aller möglichen Ideen ist hier im Gottesbegriff
versteckt. Die Idee Gottes zu haben, bedeutet nämlich, die Idee
der größtmöglichen Vollkommenheit hinsichtlich aller
positiven Attribute zu haben. Was er mit ,Gott` bezeichnet, definiert
Descartes in der dritten Meditation.
Unter Gott verstehe
ich eine gewisse unendliche, unabhängige, in höchstem
Maße erkennende, allmächtige Substanz, von der sowohl ich
geschaffen bin, als auch alles andere, wenn es anderes gibt.
Gott fungiert bei
Descartes also als ein Referenzpunkt, dem alle Vollendung
zugesprochen werden kann.
Da ich von Gott weiß, dass
er ein vollkommenes Wesen ist, dem alle Vollkommenheiten zukommen,
darf ich ihm nichts anderes zuschreiben als das, von dessen
Vollkommenheit ich weiß, und alle [Begriffe], die ich so bilden
kann und die ich als uneingeschränkt vollkommene Perfektion
begreife, von denen weiß ich, dass sie Gott zukommen, gerade
weil ich sie bilden kann.
Gott ist aber auch
allwissend und in diesem Sinne der Ort, an dem alles mögliche
Wissen gewusst wird. Deswegen lassen sich alle Ideen endlicher Dinge
dadurch erzeugen, dass ich von der Gottesidee in Gedanken etwas
abziehe. Die Gottesidee selbst ändert sich dadurch nicht,
vielmehr entsteht eine neue Idee von einem neuen Ding.

Die Idee eines Engels als
körperlosem und vollkommenerem Geist, als der menschliche Geist
es ist, kann etwa dadurch erzeugt werden, dass man von der Idee
Gottes etwas abzieht. Ein Engel ist genauer gesagt so wie Gott, nur
dass seine Essenz nicht in seiner Existenz besteht. Eine Idee gewinnt
also Inhalt, indem sie gegen das Gesamt aller Ideen abgegrenzt
wird.

Der vorgestellte
Gegenstandsbezug ist damit unabhängig von der Form bzw. Materie
der Idee
sola a se spectata, aber auch unabhängig von der
Existenz dessen, auf das sie sich bezieht. Dies ist eine der Stellen,
an denen gerade hinter Descartes' fragloser Verwendung des
Gottesbegriffes etwas steht, dessen Weiterführung sich
lohnt. Ich behaupte nicht, dass Descartes mit der Verwendung des
Gottesbegriffs exakt das gemeint hat, was ich daraus mache, aber dass
der Gottesbegriff dort steht, wo meine Ausführungen ebenfalls
hingehören würden. Sie würden, grob angedeutet, in den
Bereich einer Semantik oder Theorie des Sinns fallen.Er ist dort, wo
er steht, Platzhalter für eine notwendige Erläuterung und
für Descartes selbst war diese Erläuterung umso weniger
notwendig, je mehr seine Zeitgenossen den Ausdruck ,Gott`
verstanden.

Hier aber wird es
nötig sein, ein paar mehr Worte über die Funktion des
Gottesbegriffes zu verlieren.
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