Next: ZusammenfassungUp: Menschen Fleisch und
Engel Previous: Gewissen ohne Bewusstsein? Charron beschreibt den
weisen Menschen in blumigen Worten als eine gefestigte
Persönlichkeit, die dem ihr innewohnenden Gesetz der Natur zu
folgen verstehe. Die treibende Kraft dieser
Rechtschaffenheit (preud'hommie) ist das Gesetz der Natur, das
heißt, die allgemeine Gerechtigkeit und Vernunft, die in jedem
von uns scheint und leuchtet. Wer auf dieser Grundlage handelt,
handelt nach Gott: Denn dieses natürliche Licht ist ein Leuchten
und Lichtstrahl der Göttlichkeit, ein Ausfluss und eine
Niederkunft des ewigen göttlichen Gesetzes. Charron
beschreibt hier weniger den rechtschaffenen Menschen, als
dass er vielmehr fordert, wie er zu sein habe.  Der preud'homme ist
ein Ideal eines Menschen.Die Beharrlichkeit und Integrität
dieses preud'homme umschreibt Charron interessanterweise mit
einer lateinischen Wendung, in der der Begriff der Substanz
vorkommt. Denn dieses Gesetz der Gleichheit und der
natürlichen Vernunft ist (...) [ein] allgemeines, in allem
beständiges, immer dasselbe und gleiche, einförmige, das
weder Zeit noch Ort verändern oder verstellen können, das
keiner Zunahme oder Abnahme fähig ist, nicht mehr und nicht
weniger werden kann. Der Substanz eignet kein mehr oder
weniger.  Ohne
Charron weiter auslegen zu wollen, werde ich dies als Hinweis
für das folgende Interpretament nutzen. Spätestens die
Forderung an einen Menschen, Verantwortung zu übernehmen,
möchte ich erklären, erzwingt seine Integrität,
Individualität und Konstanz, und damit seine Subjektivität
und Substanzialität.Substanzen sind laut Descartes dasjenige,
wodurch etwas Bestand hat, das wir in der Welt erkennen
können. Sobald wir eine Idee einer Eigenschaft in uns haben,
setzt diese eine Substanz voraus, in der diese Eigenschaft ist.  Physikalische Eigenschaften
lassen sich stets als Eigenschaften einer einzigen Substanz
verstehen, nämlich der ausgedehnten Welt. Menschen haben aber
nicht nur physikalische Eigenschaften, sondern insbesondere die
Fähigkeit, gewissenhaft zu entscheiden. Es gibt etwas am
Menschen, dem wir bewusste Handlungen zuschreiben, und dadurch eine
gewisse Verantwortlichkeitunterstellen.Dasjenige, dem wir
Verantwortung zuschreiben, ist zwar ,etwas`, es ist aber gerade nicht
das, was die Physik beschreiben kann. Daher ist zunächst die
Frage offen, Eigenschaft welchen Dinges die Fähigkeit ist,
Verantwortung zu übernehmen. Dass das denkende Ding, das
Descartes als abstrakten reinen Verantwortungsübernehmer
isoliert, tatsächlich eine Substanz ist, folgt aber nicht nur
durch die begriffliche Festlegung, Träger von Eigenschaft seien
Substanz zu nennen. Das verantwortungsfähige ego hat
gerade durch seine Fähigkeit, gewissenhaft zu entscheiden und
verbindlich zu handeln, Qualitäten, die es zur Substanz
machen. - Erstens impliziert Verantwortungsfähigkeit
eine gewissen Unabhängigkeit. Das zeigt sich (a) darin, dass
Abhängigkeiten, durch körperliche Einflüsse oder
Gewaltanwendung anderer Menschen, von Verantwortung befreien
können.
(b) Außerdem kann eine bloße ''Anderung
der körperliche Substanz keinen Menschen einer Verantwortung
entheben, die er übernommen hat. Wie bereits angeführt,
kann kein Mensch der Pflicht, ein Versprechen zu halten, entgehen,
indem er sein körperliches Substrat auswechselt. Verantwortlich
ist nicht der Körper des Menschen, sondern sein ego,
dasjenige, von dem seine Handlungen ausgehen. (c)
Schließlich endet die Verantwortlichkeit eines Menschen
gegenüber anderen nicht mit dem Tod eines der
Beteiligten. Menschen empfinden gerade gegenüber Toten weiterhin
Schuld und die Thesen von Descartes sind etwas, für das man
immer noch ihn, nicht seine Leiche, einen anderen oder eine
unbestimmte ,Geschichte` verantwortlich macht. Das Verantwortliche am
Menschen als solches hat unabhängigen Bestand. - Zweitens
erzwingt Verantwortlichkeit eine gewisse Einheit des ego.
(a) Kein denkender Mensch kann erstens mit einem Teil seines Denkens
zu etwas verpflichtet sein und mit einem anderen zu dessen
Gegenteil. Ein Denkender, der nicht auf Widersprüchlichkeiten
reagiert, indem er sie auszuräumen versucht, kann nicht wirklich
verantwortlich genannt werden. Dies ist einer der Gründe, aus
denen sogenannte Geisteskrankheit von Verantwortlichkeit entbinden
kann. Foucault hat dies treffend bemerkt: Wo das normale
Individuum die Erfahrung eines Widerspruchs macht, macht der Kranke
eine widersprüchliche Erfahrung. (b) Um vor anderen Menschen
glaubhaft Verantwortung übernehmen zu können, muss ein
denkender Mensch über einen längeren Zeitraum hinweg
dieselben Gedanken haben können, auch wenn er sich,
körperlich gesehen, ändert. Von einem verantwortungsvollen
Menschen verlangen wir, dass er in einem gewissem Sinne derselbe
bleibt, egal, wo er sich aufhält, welche Haarfarbe er hat und
was er gegessen hat. Es muss einen Punkt an ihm geben, sein
ego, der sich selbst als eine Einheit begreift. (c) Während bewusste
Gedanken und Motive unmittelbar zu verantworten sind, gilt dies
für die sogenannten unbewussten Gedanken und Motive nicht ohne
weiteres. Zwar sind wir oft dafür verantwortlich, unbewusste
Motive zu integrieren und dadurch bewusst zu eigenen zu machen,
nachdem sie uns als solche bekannt sind. Unmittelbarer
Handlungsbedarf entsteht durch die Selbstzuschreibung unbewusster
Gedanken aber nicht. Schreiben wir uns dagegen bewusste Gedanken
selbst zu, so ist unmittelbar in unserer Verantwortung, diese nicht
in einen offenen Widerspruch zu den anderen bewussten Gedanken zu
setzen oder dort zu belassen. - Drittens schließt
Verantwortlichkeit auch Individualität ein, so dass sich
verschiedene denkende Menschen als Referenzpunkte von
Verantwortlichkeit voneinander unterscheiden. Es kann niemand einfach für einen
anderen Verantwortung übernehmen, ohne diesen zu fragen. Was die
Verantwortungsübernahme angeht, steht jeder handelnde Mensch
gerade den anderen Menschen als abgeschlossene Einheit
gegenüber. Die Einheit ist eine solche von Denktätigkeiten,
die alle von demselben denkenden Individuum ausgehen. Zwei
Denktätigkeiten sind zudem nur dann aufeinander beziehbar, wenn
sie von wenigstens einem Denkenden beide getätigt werden. In
diesem Sinne unterscheiden sich denkende Menschen radikal
voneinander: Wenn zwei Menschen sich mit ihren Gedanken gegenseitig
widersprechen, herrscht solange noch kein wirklicher Widerspruch,
solange sie sich nicht untereinander verständigen oder von einem
dritten miteinander verglichen werden.
Möglicherweise ist
es noch im Sinne der cartesischen Philosophie, wenn man sagt, die
Personalität des meditierenden ego setzte nicht
voraus, dass dieses eine Substanz sei. Auf jeden Fall aber
gilt, dass es kein ego geben kann, das nicht in dem
spezifizierten Sinn eine Substanz wäre. Denn die
Denktätigkeiten des meditierenden ego erzeugen
dessen Substanzialität, da sie bewusste, und das heisst:
gewissenhafte Tätigkeiten sind.
Next: ZusammenfassungUp: MenschenFleisch und
Engel Previous: Gewissen ohne Bewusstsein?
|