Ist die Seele unsterblich? Gibt es Gott? Diese Fragen, die Descartes in seinen Meditationen behandeln will, lassen sich so dem Titel der ersten Auflage entnehmen, scheinen uns aber nicht mehr viel zu sagen. Es sind auch die Fragen, deren Beantwortung Descartes in seinem Widmungsschreiben an die Sorbonne verspricht (Semper existimavi duas quaestiones, de Deo & de Animâ AT VII 1,7). Er schreibt dort, die genannten Fragen seien eher mit Hilfe der Philosophie als der Theologie zu erörtern (Philosophiae potius quàm Theologiae ope sunt demonstrandae AT VII 1,8). Damit unterscheidet er zwei Weisen, Gewißheit zu haben oder zu beanspruchen: die Gewißheit des Glaubenden einerseits und die Gewißheit durch natürliche Begründung (ratione naturali AT VII 2,4). Warum meint Descartes, die Begründung ratione naturali sei geeigneter, über Gott und die Seele Klarheit zu schaffen? Dazu muß zuerst
gefragt werden, wozu überhaupt die Untersuchung dienen soll. Im
Schreiben an die Sorbonne erklärt Descartes, wer die Existenz
Gottes und die Unsterblichkeit der Seele nicht einsehe, ziehe das
Nützliche dem Rechten vor (pauci rectum utili praeferrent AT VII
2,6). Die dem entgegengesetzte Haltung, nämlich den Vorrang des
Rechten vor dem Nützlichen anzuerkennen, kann durch Einsicht in
die Natur Gottes und der Seele hervorgebracht werden. Zu dieser
Einsicht kann einerseits die geoffenbarte Religion führen,
sicherer aber ist der Weg der natürlichen Begründung. Was
unterscheidet Descartes hier unter den Titeln rectum und
utilis? Das Wort rectum taucht im weiteren Verlauf der
Meditationen nicht wieder auf, und auch utilis wird nur ein
einziges Mal wieder gebraucht. Im Discours de la Methode hatte
Descartes noch seine eigenen Erkenntnisse als utiles
beschrieben (parvenir à des connoissances quisoient fort utiles à la
vie AT VI 61,28). Dort deutet Descartes mit dem Wort utile
sogar die Möglichkeit an, von einer theoretischen Philosophie
(Philosophie speculative 61,30) zu einer praktischen überzugehen
(trouver une pratique 61,31). In den Meditationen taucht utilis hingegen
weiter nur in dem folgenden Zusammenhängen auf: die physische
Empfindung des Durstes sei utilis für den Menschen (nihil
in toto hocnegotio nobis utilius est AT VII 88,16); und die passiven
Fähigkeiten hätten keinen Nutzen, gäbe es nicht auch
entsprechend Aktives (79,9-10). (Zum Nutzen auch: Passions art 52, James p. 100.) Descartes spricht in der Widmung an die Sorbonne offenbar nicht in seinen gewohnten Worten. Auch das Wort Anima gebraucht Descartes nur dort und in der Synopsis, um das gestellte Problem zu bezeichnen. An letzterer Stelle verwendet er das Wort lediglich um zu sagen, er werden in der zweiten Meditation nicht beweisen, die Seele (anima) sei unsterblich (nonnulli rationes de animae immortalitate illo in loco expectabunt AT VII 12,16). In der zweiten Meditation selbst taucht der Begriff zwar ebenfalls ein Mal auf, aber nur rückweisend auf das, was Descartes sich bisher unter seiner Seele vorgestellt habe (Quid verò ex iis quae animae tribuebam AT VII 26,9 und 27,2). Ansonsten kommt das Wort Anima in den Meditationen nicht vor. Es ist also zu vermuten, daß Descartes sein Vorhaben anders begreift, als er es der Sorbonne andient. Dennoch lohnt sich die weitere Lektüre des Widmungsschreibens. Descartes ordnet die Erkenntnis des Rechten dem Geiste zu, gesteht die Orientierung am Nützliche aber auch dem Atheisten und den unreflektierten Körperfunktionen zu. Mit dem Beweis der Unsterblichkeit der Seele will Descartes also zugleich Einsicht in die Natur des Geistigen und in das Rechte (rectum) geben. Gott und die Seele, um die es hier gehen soll, haben dies gemeinsam, daß ihre Untersuchung mit einer Erkenntnis des Rechten einhergeht. Der Römerbrief, den Descartes zitiert (AT VII 2,23), zieht eine entsprechende, wenn auch stärkere Unterscheidung zwischen dem Geist (pneuma) und dem Fleisch (sarx). Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist; ich bin aber fleischlich, unter die Sünde verkauft (Röm. 7,14). Descartes behauptet also gegenüber der Sorbonne, Einsicht in das Gesetz zu vermitteln, indem er die Trennung der denkenden Seele vom Körper durch natürliche Gründe beweist. Das bloß Nützliche ist nicht bereits gesetzmäßig, und daher begreift niemand die Abtrennbarkeit des Mentalen, der nicht das Gesetz, das normative Beabsichtigen, begriffen hat. Es ist genauer zu sehen, wie uns laut Descartes diese Einsicht in das Normative allein sicher möglich sei. Die Offenbarungsreligion kann deswegen nicht vom Normativen überzeugen, weil sie damit von außen gesehen in einen Zirkel verfällt (circulum esse judicarent AT VII 2,14). Was Descartes als natürliche Begründung dagegen empfiehlt, vermeidet diesen Zirkel. Zwar legitimiert sich auch im Verfahren der natürlichen Begründung der Geist (qua Gesetz) durch sich selbst (qua Denken), aber diese Legitimation kann in ihrem Vollzug aufgezeigt werden. Es soll nicht einfach eine Wahrheit als Sache präsentiert werden, sondern nachvollziehbar gemacht werden (siehe das Vorwort an den Leser).Descartes kündigt an, ein Verfahren wie in der Geometrie anwenden zu wollen (quemadmodum in Geometriâ AT VII 4,16). Das wesentliche aber am geometrischen Verfahren ist, daß es auf Handlungsanweisungen beruht, die jeder befolgen muß, der einen Beweis verstehen will. Descartes will also die Einsicht in das Gesetz bewirken, nicht indem er von außen an die Menschen eine Offenbarung heranträgt, sondern in dem er sie in aktives Denken verwickelt. Die Wahrheit kann sich nur durch Vollzug des Denkens in erster Person aufzwingen (Veritas enim ipsa facile efficiet AT VII 6,5). In diesem Sinne ist auch die eindringliche Forderung zu verstehen, vorurteilsfrei an die Lektüre heranzugehen (requirunt mentem a praejudiciis plane liberam AT VII 4,28). Die Beweiskraft kann sich nicht für denjenigen ergeben, der sich die Argumente bloß von außen besieht (tantum iis qui seriò mecum meditari ... volent AT VII 9,25). (Siehe hierzu ebenfalls das Vorwort an den Leser) Wie zeigt sich die Wahrheit, daß Seele und Körper voneinander getrennt seien und Gott existiere? Außer in der Offenbarung, schreibt Descartes, auch in jedem geschaffenen Ding. Gerade dadurch sei die Existenz Gottes leichter erkennbar als die einzelnen Dinge. Es ist wichtig, darauf zu achten, wie Descartes dies meinen kann. Sofern sich die Existenz Gottes in seinen Geschöpfen zeigt, allen voran im menschlichen Geist, ist sie nur mittelbar einsehbar, dennoch ist sie leichter einsehbar als dasjenige, durch das sie vermittelt ist. Die Erkenntnis der Existenz Gottes ist also implizit in jeder anderen wahren oder falschen Erkenntnis enthalten, sie ist präsupponiert. Die Wahrheit ist uns deshalb nahe, weil wir immer schon über sie hinaus sind. Diese Denkfigur kann einen ersten Aufschluß darüber geben, in welchem Sinne Descartes die Existenz Gottes zeigt. Er zeigt nicht die Existenz des Offenbarten Gottes als solchem, sondern die implizite Anerkennung einer Voraussetzung für Normativität in unseren bewußten Handlungen. Jedem genuinen Streben des Geistes geht die Anerkennung dieser Grundlage voraus; über das sogenannte körperliche Streben wird noch zu reden sein. |