Descartes beginnt die vierte Meditation mit folgender Ankündigung: Jamque videre videor aliquam viam per quam ab istâ contemplatione vero Dei, (...) ad caeterum rerum cognitionem deveniatur (AT VII 53,18-22) Er
kündigt damit an, einen Weg von der Erkenntnis Gottes zu weiteren
Erkenntnissen aufzuzeigen. Ausgangspunkt für die Sicherheit der
neuzeitlichen Wissenschaft ist also, wörtlich genommen, Gott;
interpretiert: Die Einsicht in die Unvollkommenheit der Erkenntnis und
damit verbunden die Möglichkeit des Strebens nach vollkommener
Erkenntnis.
Letzteres wird diskutiert, im Sinne des ersteren reichen einige Wiederholungen dessen, was am Ende der dritten Meditation bereits festgestellt wurde. Das Prinzip lautet, richtig verstanden: Alles, was ich klar und deutlich als möglich erkenne, ist möglich; alles was ich klar und deutlich als wirklich (notwendig) erkenne, ist wirklich. Vgl. hierzu Hoffman, AT III 544. Ex quibus satis patet illum fallacem esse non posse;... (52,8-9) Das Argument lautet, daß in jeder Täuschungsabsicht eine Unvollkommenheit Gottes liege: in omni (...) fallaciâ vel deceptione aliquid imperfectionis reperitur (53,24-5). Täschen zu wollen, widerspricht aber dem Wesen Gottes. Deum, inquam, illum summe perfectum, quem fallacem esse repugnat,... (62,18-9). Ebenso in der fünften Meditation (70,10-13), video omnis scientiae certitudinem et veritatem ab unâ veri Dei cognitione pendere (71,3-4). Daß Gott kein Betrüger ist, bedeutet: 'Wenn es eine Wahrheit gibt, so kann ich sie finden' (80,15-9).Die eigentliche Frage wird dadurch motiviert: Wie ist es überhaupt möglich, daß ich irre, wenn doch Gott mich geschaffen hat und er keine Täuschungsabsicht haben kann? Warum jetzt die Behandlung des Irrtums?
Irrtum ist ein Mangel, eine privatio. Die fehlende Erkenntnis ist etwas gesolltes oder gewolltes, nicht so etwas wie eine zweite Nase, die mir fehlt. Irrtum entspricht dem Zustand des Hungers, nicht dem des Nicht-essens. Atque ita certa intelligo errorem, quatenus error est, non esse quid reale (...), sed tantummodo esse defectum (54,24-6). Irrtum entsteht dadurch, daß meine facultas judicandi endlich ist, sie reicht also nicht hin, es mangelt.Descartes unterscheidet zwischen privatio sive carentia und pura negatio (55,1). Der Unterschied ist, daß im Falle der privatio etwas fehlt, das eigtl. da sein sollte (Aristoteles, Cat. 12a25), bzw. daß nicht vorstellbar ist, wie Gott es mir nicht zugänglich gemacht hätte, wenn ich es auch nicht habe. Gott stiftet hier den Bereich des möglichen, innerhalb dessen eine inhaltlich positive Verneinung möglich ist (defizienter Modus: Heidegger). Daß die Abwesenheit von etwas privativ ist, ist grundsätzlich eine Präsupposition. Der Unterschied zwischen bloßer Abwesenheit und Abwesenheit privatim ist, daß bei letzterer eine mögliche Anwesenheit unterstellt wird. Aristoteles' Beispiel: vom Blinden werden privatim gesagt, er könne nicht shehen, vom Stein dagegen bloß negative. Was solche Unterstellungen, d.i. das Denken in Definizienzen möglich macht, ist Gott, indem er der Ort ist, an dem die Möglichkeiten wirklich sind: ...in me tenuem et circumscriptam, in Deo immensam (VII 57,10-1)... (Hierzu das Argument vom Primat des Wirklichen her,
3. Med.) Nam cùm ex Dei ideâ sciam, Deum esse ens perfectissimus, et cui omnes absolutae perfectiones conveniunt, non debeo ipsi tribuere quicquam, nisi quod absolute perfectum esse novi; et quicquid ut tale formare possum et ut absolute perfectam perfectionem concipere, illud novi, eo ipso quia id formare possum, ad Dei naturam pertinere (AT V, 158). Einzig der Wille selbst ist nicht größer vorstellbar. Besteht denn nicht die Möglichkeit eines Defizits an voluntas: Akrasie, Uneigentlichkeit?Descartes scheint von Graden der Freiheit zu sprechen: Indifferentia autem illa, quam experior, cùm nulla me ratio in unam partem magis quàm in alteram impellit, est insimus gradus libertatis (58,5-8). Er schreibt dies, um zu untermauern, daß die menschliche Freiheit weder durch Gottes Gnade noch durch meine Erkenntnisfähigkeit mehr oder weniger vollkommen sein kann: nec sane divina gratia, nec naturalis cognitio unquam imminuunt libertatem, sed potius augment et corrobant (58,3-5). Wenn er fortfährt mit der Feststellung nullam in eâ perfectionem, sed tantummodo in cognitione defectum, sive negatione quandam, testatur (58,8-10), so macht er zunächst darauf aufmerksam, daß die Freiheit des Willens nicht in einer Indifferenz begründet sein kann. Wahlfreiheit kann nichts mit Beliebigkeit im Sinne von Zufälligkeit zu tun haben. Zwar scheint der Grad der Entscheidungsfreiheit zwischen A und B vollkommen, wenn mich nicht mehr zu A treibt las zu B, aber dies für 'Freiheit' zu haöten, ist ein Mißverständnis. Wenn mich nichts zu einer bestimmten Entscheidung hin treibt, so liegt keine größere Freiheit vor, sondern es fehlt Einsicht in die Gründe für eine mögliche Entscheidung. Gerade in dem Fehlen eines solchen Maßstabes für die Willensfreiheit drückt sich aber auch eine methodologische Einsicht aus. Was sich in der sogenannten Schwäche des Willens zeigt, sagt nichts über dessen Perfektion, sondern immer nur über einen Mangel an Erkenntnis aus. Der Wille ist der Maßstab, an dem die Güte der Erkenntnis gemessen werden kann, aber er selbst läßt sich gerade aus diesem Grund nicht mehr messend einholen. Auch dies besagt die Behauptung, der Wille sei unmittelbares Abbild Gottes (imago und similitudo, AT VII 57,14-5; vgl. Gen. I,26). Der Wille als Maßstab, der die Definizienz des Erkenntnis sichtbar macht, ist in genau diesem Sinne ein göttlicher, daß er einen Horizont von Möglichkeiten eröffnet. Auch die Denkbarkeit, wenn auch nicht Erkennbarkeit der Unendlichkeit, beruht auf der potentielen Unendlichkeit des Wollens. Gott, da er keinen Notwendigkeiten als ihm äßerlichen unterworfen sein kann, begründet den Bereich des Kontrafaktischen. Die Normativität, für die Gott steht, indem er selbst die notwendigen Wahrheiten 'will', beruht für uns auf dem menschlichen Wollen. Dies darf nicht so verstanden werden, daß die Notwendigkeit durch unser Wollen erst entsteht, so daß der Will den Dingen etwas aufzwänge. nulla enim necessitatem cogitatio mea rebus imponit (66,22). Die Kontrafaktizität bzw. Notwendigkeit kommt zwar mit unserem Wollen in die Welt, nicht aber wird etwas in der Welt dadurch schon dazu genötigt, so und so zu sein. ...non quòd mea cogitatio hoc efficiat, sive aliquam necessitatem ulli rei imponat, sed contrà quia ipsius rei (...) necessitas me determinat ad hoc cogitandum (67,5-8). Die Notwendigkeit, der das Denken hierin begegnet, stellt sich erst durch den Akt des Denkens (Wollens) ein. Es ist keine absolute Notwendigkeit, sondern nur eine necessitas ut nunc, die aber nichtsdestoweniger eine Notwendigkeit bleibt, quae necessitas plane sufficit (67,23-6). ...non est necesse (...) sed quotiens volo... (67,28-30) Das Vermögen, zu wollen, kann nicht als defizient gedacht werden, d.h. unmittelbar terminologisch: Gott hätte mir nicht mehr Wahlfreiheit lassen können als in der Form des Willens. Die voluntas, in se formaliter et praecise spectata (57,20-1) weist nicht auf eine vollkommenere voluntas hinaus (vim volendi ... est enim amplissima, 58,14-16). Allerdings liegt dies gerade an der Zugangsweise in se formaliter spectata. Auch die Ideen weisen in se spectata nicht über sich hinaus. Die voluntas dagegen ist nur eine zu je einer Zeit (d.i. unterscheidet sich nicht als solche von anderen voluntates), und hat dementsprechend auch keinen objektiven Gehalt, der über sie hinausweisen könnte. Es kann nur einen wirklichen Willen eines Menschen geben, alle eventuell davorleigenden konfligerenden Intentionen verdienen die Bezeichnung nicht. Was verschiedene Willensakte voneinander unterscheidet, ist deren Verknüpfung mit den Sachgehalten von Ideen. Dies ist ein Vorschlag zur Terminologie: unterscheide an jedem Willensakt einen einheitlichen, in sich abgeschlossenen und perfekten Teil von einem Sachgehalt in der Weise, daß sie verschiedene Modi des Denkens sind. Die Einheit des menschlichen Willens ist weniger ein Fakt, als eine exhaustive Forderung (Dingler, Holzkamp). Es gilt:
Die voluntas qua Denktätigkeit tritt zu den Ideen, objective spectata, hinzu. In diesem Verhältnis ist der Wille vollkommen, die Gehalte der Ideen jedoch nicht. Die Ideen weisen auf anderes, der Wille jedoch nicht. Letzterer ist mir unittelbar verfügbar, während die Gehalte der Ideen etwas Gegenständliches darstellen. Erst durch das Hinzutreten des Willens tritt aber die Defizienz der intellectio zu Tage. Der Bereich, der zwischen dem endlichen Erkennen und dem unendlichen Willen liegt, tritt auch unter dem Namen 'Schuld' in Erscheinung. Im Bewußtsein von Schuld zeigt sich die Diskrepanz zwischen Wollen und Wissen (Heidegger, Gewissen). Die Schuld tritt in der Form einer Privation auf: Privatio autem, in quâ solâ ratio formalis falsitas et culpae consistit, ... (60,31-61,1; vgl. 60,3). Descartes scheint hier den Aussagen aus der dritten Meditiation zu widersprechen: Privatio (...) nullo Dei concursu indiget, quia non est res, neque ad illum relata ut causam privatio, sed tantummodo negatio dici debet (60,31-61,4). Wenn meine
Unvollkommenheit, wie sie mir durch mein Verschulden bewußt
werden kann, eine bloße Negation ist, dann gibt es nichts, was
fehlt. Wo aber nichts fehlt, kann auch keine wirkliche
Unvollkommenheit bestehen. Gottes Existenz hatte Descartes aber gerade
durch Berufung auf die Möglichkeit des Menschen bewiesen, seine
eigene Unvollkommenheit zu erkennen und mithin zu transzendieren. In
der Erkenntnis einer bloß negativen Abwesenheit wird aber nichts
über das hinaus gedacht, was da ist. Nur die Einsicht, daß
der menschliche Intellekt unvollkommen in der Art einer Privation ist,
kann zu der Idee eines unendlichen Wesens führen.
Die Fehlbarkeit durch mich besteht aber in der falschen Einschätzung meiner Fähigkeiten. Ich habe durchaus die Möglichkeit, von Irrtümern frei zu bleiben, wenn ich nämlich nur klar begründete Urteile fälle (62,20-6). |